Schriften: Stitaur

Die letzte Rede Stitaurs

Niemand kann behaupten, er kenne Utanna besser als ich. Seit 500 Jahren lebe ich hier. Ich habe eure Jungfrauen gefressen und habe euch Schutz gegeben. Ich kenne eure Wälder, eure Flüsse, eure Berge, eure Wüsten, eure Seen und eure Küsten. Jahrhunderte beschützte ich euch vor der schwarzen Horde. Ich liebe euer Land und habe es gern behütet. Doch nun ist die Zeit gekommen, Abschied zu nehmen. Es ist vieles geschehen und alles ist unwiderruflich. Wir alle müssen die Konsequenzen tragen.

Als ich vor so langer Zeit Utanna entdeckte, waren alle Menschen ein kleines Volk auf diesem Kontinenten, der abseits aller anderen lag. Doch die Welt drehte sich weiter und Ereignisse bahnten sich an, die die Welt in ihren Fugen erzittern lassen sollten. Die schwarze Horde unterjochte einen Kontinenten nach dem anderen und wurde zahlreicher Mal zu Mal. Aus der Erde krochen Gestalten, die das Licht der Welt nie hätten erblicken dürfen. Doch Utanna schlief und sah von all dem nichts. Aber die Horde schlief nicht und lenkte bald ihre Blicke auf diesen Kontinent. Manch einer erkannte die Gefahren, die drohten. Man bat mich um Hilfe und ich gewährte sie.

Es war von Anfang an klar, daß meine Hilfe nicht billig war. Große Leistungen brauchen große Opfer. Es gab Abtrünnige, die sich von mir lossagten. Trotz alledem hielten wir dem Ansturm lange stand. Lange genug, um eine Verteidigung aufzubauen und Mittel für die Vernichtung der schwarzen Horde bereitzustellen. Von all dem bemerktet ihr nichts und wir harrten des Tages, der kommen sollte und Flammen über Utanna jagen würde. Denn alle Naturgewalten, die wir aufbringen konnten, konnte die Flut des Flammenmeers der schwarzen Horde nicht bremsen. Schließlich war es soweit.

Heftig brach es hinein. Kräfte, die Menschen nie zuvor gesehen hatten, fielen über sie hinein. Gewaltige Heere ergossen sich über die Länder und zusammen mit mächtiger Zauberei verwüsteten sie die Welt, die einst so friedlich dalag. Die Gegenwehr ächzte und brach an einigen Stellen. Man zog sich zurück in die Tagis. Dort fand die letzte Schlacht statt, die selbst die Götter in Staunen versetzte. Wesen, die nie gedachten in diesen Kampf verwickelt zu werden, mußten Stellung beziehen. Sogar die Götter fühlten sich dazu genötigt und lenkten ein. Auch wenn sie direktes Eingreifen zu vermeiden suchten, so wird ihr Wirken noch in Tausend Jahren zu spüren sein, ja sogar noch dann, wenn sie längst vergessen sind.

Gemeinsam betrachteten die Götter das Bild, das sich ihnen bot und welches sie selbst geschaffen hatten. Den freien Willen wollten sie ihren Geschöpfen geben, doch immer wieder griffen sie in das Ruder der Geschichte. Es verdrieß sie und sie zeichneten die Welt, daß sie ihrer nicht vergessen solle und doch ohne sie auskommen möge. Diese letzte, endgültige Freiheit wurde bitter erkauft und nun standen die Völker dieser Welt gottverlassen da. Und welch' schauerliches Bild bot sich ihnen: Zerborstene Erde, kochende Seen, geschundene Berge und kahle Wälder.

Verzweifelnd und mutig zugleich begannen die Menschen alles von vorne. Abermals baten sie um meine Hilfe und abermals gewährte ich sie. Mit Magie und Muskeln wurde die Welt neu geschaffen. Bitter war der Geruch der alten Welt, der überall hervorkam und von einer Zeit zeugte, die nie mehr wiederkehren würde. Zuwenig Götter zum Glauben und zuviele Probleme um sie ohne Glauben zu lösen, doch die Menschen gaben nicht auf. Eine endlose Zeit arbeiteten sie. Als das Werk getan war, flog ich wieder über ihre Wälder, ihre Flüsse, ihre Berge, ihre Wüsten, ihre Seen und ihre Küsten. Und ich sah etwas.

Ich habe lange genug gelebt, um zu erkennen, was es war. Die Welt war nicht mehr die meine. Gemeinsam mit Barduk und anderen hatte ich über das Leben und andere Probleme philosophiert. Was ich sah war nicht mehr mein Leben; ich sah das eure. Als Mensch getarnt besuchte ich einst die Metropolen. Ich fand sie nicht mehr; stattdessen fand ich eure Städte. Flüsse und Wälder, sie gehören nicht mir, sondern euch. Ihr seid die Erben und euch gehört das, was eure Väter schufen. Ihr lebt und kommt ohne meine Hilfe aus.

Keiner fragt mich mehr nach Hilfe, Meine Zeit ist um und ich werde gehen. Lange habe ich gelebt, doch wie für die Götter ist auch für mich kein Platz mehr bei euch. Die älteren unter euch werden sich noch erinnern, daß ich Jungfrauen fraß. Mit Furcht erzog man euch und Belohnung gab es, wenn ihr etwas nach dem Willen der Mächtigeren tatet. Beides braucht ihr nicht mehr und beides wird euch nicht mehr gegeben. Also wünsche ich euch ein letztes Lebewohl und möget ihr euch selbst behüten.

Kommentar Barduks

Seit Stitaur Utanna verlassen hat, erreichen mich ständig Anfragen, ob er tot oder bei den Göttern sei. Vielleicht lebt er auch nur zurückgezogen auf einer anderen Ebene. Auf diese Frage eine konkrete Antwort zu finden, wäre nicht im Sinne Stitaurs. Bedenken wir seine Worte und die Bedeutung, die in ihnen steckt.

Schon immer dürsteten die Menschen nach Antworten auf ihre Fragen. Gibt es jedoch auf alle solche Fragen ein Antwort? Stitaur ließ uns wissen, von nun an seien wir auf uns selbst gestellt. Ob Gut, ob Böse oder andere Entscheidungen: sie sind die unseren und nicht die der Götter oder Stitaurs. Lange führte er uns durch die Welt und zeigte dabei ihr Gesicht auf. Nachdem wir genug gesehen haben, müssen wir selbst wählen, ohne die Unterstützung jener, die uns schufen und lehrten.

Es ist deshalb völlig belanglos, ob Stitaur lebt oder nicht, bei den Göttern oder in Einsamkeit verweilt. Er wird nimmer Antwort auf euer Rufen. geben. Viel Arbeit wurde in den Aufbau der Welt gesteckt und es war eure Arbeit. Ihr fragt nach Rat in Dingen, die ihr selbst schuft. Löst eure Probleme selber und fragt nicht nach Göttern.

Lest die Werke des Stitaurs und studiert seine Worte. Weisheit ist in ihnen zu finden und mache Frage hat der Drache schon beantwortet, ehe sie gestellt wurde. Viele Thesen und Interpretationen zu seinen Schriften gibt es, aber eine Regel kann nicht übersehen werden: wer sich zulange auf andere verläßt, wird abhängig. Offen gesagt, scheint mancher, der sich weise nennt, in seiner Weisheit von Stitaur abhängig zu sein und es nicht zu wissen.

Abschließend sei bemerkt, daß niemand die Schuld am Verschwinden Stitaurs trägt und niemand ihn wiederbringen kann. Es ist die Zeit, die ihre Hand unerbittlich die Verbindung mit diesem großen Drachen trennen ließ. Die Zeit war gekommen, uns die Welt in den Schoß zu legen. Trauern wir nicht Stitaur hinterher, denn nicht alles, was er tat, stieß auf ungeteilten Beifall. Manche Jungfrau wäre ganz gut ohne ihn ausgekommen. Nie wird man diesen Drachen ganz verstehen und das Verklären seines Bildes wird dazu beitragen. Aber laßt Stitaur ruhen, egal wo er ist.

Zitate

"Einen guten Führer erkennt man an der Dauer seines Rufs. Gut Führer haben oft einen Ruf über tausend Jahre hinaus. Unglücklicherweise läßt sich diese Eigenschaft nicht zu Lebzeiten des Führers ermitteln."

"Um an der Macht zu bleiben, lohnt es sich für einen Führer konkrete Feinde zu haben. Auf diese Weise kann man von den eigenen Fehlern ablenken. Die Bedeutung des konkreten erkennt man an der Häufigkeit, mit der sich Militär in zivilen Positionen aufhält. Selbst die sonst so erhabenen Elfen müssen sich diesem Prinzip der Machtstruktur unterwerfen."

"In kleinen Gruppen gilt prinzipiell dasselbe wie in großen. In kleineren Gruppen muß der Herrscher seine Position allerdings öfter beweisen, da die Eigendynamik der Führer-Gruppe-Konstellation geringer ist. Dies führt zu interessanten Folgerungen. Erstens ist es so im Interesse des Führers seinen Machtbereich zu vergrößern, obwohl allgemeiner Glaube ist, kleinere Gruppen ließen sich leichter kontrollieren. Damit steigt außerdem das Vertrauen in den Führer. Zweitens sind gute Führer meist in kleinen Gruppen zu finden. Scheinen jene nicht in der Lage zu sein, größere Vereinigungen zu führen, ist dies meist auf Unkenntnis der Machtstruktur zurückzuführen."

"Eine Führer nimmt sich keine Macht, sie wird ihm gegeben."

"Menschen ohne Führer sind wie ein Huhn ohne Kopf ... die Maxime von vielen Humanoiden-Stämmen könnte man mit 'Nur ein Huhn im Topf ist ein gutes Huhn' zusammenfassen."

"Erhalten menschliche Gruppen einen neuen Führer, ist dies so, als ob die ganze Gruppe neu geschaffen worden sei. Erhalten elfische Gruppen einen neuen Führer, ist dies so, als sei der alte Führer neu geboren. Bei orkischen Gruppen gilt: neue Zerstörung im alten Stil."

"Das Volk nimmt nur ein festes Bild des Führers wahr, daß auch ein Führer sich verändert, wissen nur wenige. Dadurch ergibt sich ein Problem, denn das Volk verändert sich nur langsam, reziprok zur Größe. Es gibt drei Möglichkeiten das Problem zu lösen. Erstens setzt man den Führer ab, zweitens der Führer ist dumm und verändert sich so langsam wie das Volk, drittens der Führer setzt Machtinstrumente ein."

"Es ist nötig, Führern klar zu machen, daß ihre Position nicht selbstverständlich ist. Unter Umständen mag es Königen vorkommen, als ob sie durch Vererbung ihr Recht auf Führung erworben haben. Stößt man diesen Führern nicht die Nase in ihre Aufgaben, so hat man bald ein Huhn ohne Kopf."

"Ein Führer ist Despot und Märtyrer in einem."

"Wer auf der Suche nach Macht zum Führer wird, der ist über sein Ziel hinausgeschossen. Denn mit dieser Form der Macht geht Verantwortung einher. Manch ein Führer ließ deshalb die Entscheidungen von seinen Beratern fällen. Dadurch wird zwar die Macht abgegeben, nicht aber die Verantwortung."

"Ob ein Führer moralisch gut oder böse ist, kann der Geführte nicht beurteilen, da der Führer eine völlig andere Position einnimmt. Je größer die Gruppe, desto weniger steht ihr eine moralische Beurteilung zu. Dies steht im Kontrast zum Verlangen nach einem moralisch intakten Führer."

"Einem Führer ist man entweder gut oder böse gesonnen. Ihm gegenüber neutral zu sein, heißt nicht von ihm geführt zu werden."


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